-- geschrieben im August 2022 --
Prolog
Dies ist ein geheimer Bericht. Ich muss vorsichtig sein.
Seid nachsichtig mit mir, wenn dieser Bericht krumm und kantig wird. Ich bin zwar Botschafterin, dennoch bin ich auch Kind, auf eine Weise.
Ich bin nun seit acht Jahren in der Welt der Menschen. Damals wurde ich aus der Monsterwelt entsandt, um mit einer Menschenfamilie zu leben. Ich bin eine Diplomatin zwischen den Welten, ein Monster, das aufwächst in einem Haus der Menschen. In diesem Haus treffen die Welt der Monster und die Welt der Menschen zusammen, hinten im Keller, unter dem Dach und im großen Badezimmer im ersten Stock. Dort gehe ich hin, um den Monstern Bericht zu erstatten vom Leben der Menschen, denn die Monster haben Angst vor den Menschen wie die Menschen vor ihnen und ich muss ihnen erzählen und die Angst nehmen und Frieden bringen.
Doch ich glaube, ich habe Fehler gemacht. Ich habe mich verstricken lassen. Ich weiß nicht, an wen ich diesen Bericht richte, denn keine der Seiten darf die volle Wahrheit wissen, nicht die Monster und erst recht nicht die Menschen.
Dies ist der geheime Bericht des achten Jahres im Haus der Menschen.
Küchentisch I
Der Mann ist ein einfach zu lösendes Problem. Ihn zu lieben schmerzt, wenn er gebückt mit glasigen Augen am Küchentisch sitzt und seine zitternden Hände die nächste Tablette aus der Packung drücken; ihn zu lieben irritiert, wenn seine Faust auf das gemaserte Holz der Tischplatte trifft und seine donnernde Stimme auf mein Trommelfell. Die Frau weint vor Ungerechtigkeit, wenn ich den Mann liebe. Also beschließe ich, ihn nicht zu lieben und zu vergessen, dass ich ihn vermisse. Wie ich sagte: Der Mann ist ein einfach zu lösendes Problem.
Die Frau ist kompliziert. Sie kocht im Winter warme Suppen und singt nachts Lieder von den Sternen. Es ist wichtig, sie zu lieben, denn sie erklärt mir, wie man lebt. Es ist schön, sie zu lieben, wenn sie summend zum letzten Album der Beatles tanzt. Doch sie zu lieben schmerzt, wenn ihre Tränen knöchelhoch auf dem Küchenboden stehen, und sie zu lieben irritiert, wenn ihre Stimme starr wird und ihre Worte richtend. Dies ist ein schwer zu lösendes Problem.
Küchentisch II
Die Tage am Küchentisch sind lang und voller Fallstricke.
Sonntags beruft die Frau den Familien-Rat ein, weil die Familie sie kaputt macht. „Ihr bringt mich vor die Hunde“, sagt sie, oder „Ihr bringt mich ins Grab“.
Sie verlangt nach einer Lösung und manchmal suche ich danach, doch es ist ein gefährliches Unterfangen.
Sie knüpft Fallstricke, weil sie es kann. Die Worte gehorchen ihr wie keinem sonst.
„Schau mich an!“, zischt sie, wenn ich den Blick auf die Tischplatte richte.
Sie zieht den Blick aus meinen Augen und die Gedanken aus meinem Kopf und verdreht sie, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten und was richtig oder falsch ist.
Ich darf nicht schweigen, denn dann sagt sie „Bin ich es nicht einmal wert, dass ihr mit mir redet?“ oder „Du bist wie dein Vater“, sie sagt es voller Verachtung, und sie hat Recht.
Ich darf nicht schweigen, doch zu sprechen ist gefährlich. Ich suche verzweifelt nach den richtigen Worten, aber in meinem Kopf verrenne ich mich an allen Ecken und Enden. Alle Gedanken, die ich beginne, fange ich wieder ein, weil ich weiß, dass sie falsch sind. Ich stecke fest, bin zu tief verstrickt, meine Gedanken stehen still.
Es gibt einen Ausweg. Er ist hässlich und falsch.
Es wird alles gut, wenn ich verspreche, dass ich alles besser machen werde, dass ich besser sein werde. Dann hört sie auf zu weinen und zu schreien und all meine toten und falschen Gedanken aus meinem Kopf zu ziehen.
Also verspreche ich es, auch wenn ich weiß, dass ich das nicht kann, und ich hasse mich fürs Lügen, doch ich lüge einfach weiter, damit ich endlich, endlich allein sein kann und nicht für alle Ewigkeit an diesem Küchentisch sitzen muss.
Ich muss lügen, denn die Wahrheit ist: Ich bin nicht gut, ich bin dreckig und böse und faul; die Wahrheit ist auch: Du tust mir weh und ich halte dich nicht aus, doch nichts von beidem kann ich sagen, sonst ginge die Welt an Ort und Stelle unter.
Also lüge ich, bis sie leiser weint und ich aufstehen kann und gehen und ich endlich allein bin, allein mit meinen Lügen und der Schuld.
Neben dem Herd
Nachts ist es simpel. Nachts schreit der Mann und die Frau weint, es gibt Gut und Böse, Richtig und Falsch, und ich bin auf der richtigen Seite. Sie stehen unten neben dem Herd und ich liege oben im Bett, aber wenn ich die Zimmertür einen Spalt öffne, kann ich zuhören und aufpassen. Manchmal hoffe ich, dass etwas passiert, dass sie sich schlagen oder treten, denn dann darf ich die Polizei rufen, dann kommt jemand und passt auf sie auf. Dann kann ich endlich schlafen.
Aber als dann etwas passiert, rufe ich nicht die Polizei. Ich rufe niemanden.
Als der Mann brüllt „Ich bring dich um“ bin da nur ich. Ich renne nach unten in die Küche und da bin zwischen ihnen nur ich, und vielleicht ist da ein Messer oder vielleicht auch nicht und ich weiß es nicht, weil ich es gar nicht wissen will, während ich barfuß im Pyjama auf den Küchenfließen stehe und dann ich weiß gar nichts mehr.
Kinderzimmer
Später liege ich im Bett, das weiß ich wieder. Die Tür ist wieder offen. Die Frau kommt herein. „Wenn du nicht mal deine Tür schließt, musst du dich nicht wundern, wenn du sowas mitbekommst!“, schimpft sie. Dann tut es ihr leid. Sie setzt sich auf die Bettkante. „Der Papa tut sich nichts“, sagt sie, und ich bin verwirrt, weil er doch ihr etwas machen wollte, und erst Jahre später auf einer Kellertreppe werde ich verstehen, dass ich mich verhört habe, nur um einen Buchstaben in seinem Schreien. Doch damals verstehe ich nicht, aber es ist mir auch egal, ich nehme gierig den Trost aus ihren Worten.
Aber dann legt sie sich weinend zu mir ins Bett, und ich streichle ihre Haare und küsse ihre nassen Wangen und muss all ihren Trost zurückgeben und noch viel mehr und es schmerzt mehr, ihn zu verlieren, als einfach ohne ihn zu sein.
Treppe I
Dies ist ein Nachtrag. Ich bin nun 14 Jahre in der Menschenwelt. Zwei Treppen sind an dieser Stelle relevant: Erst die Treppe, die in den Keller führt, und in Folge die geschwungene Treppe in den ersten Stock, unter deren Stufen man sich so gut verstecken kann.
Die Kellertreppe ist wichtig, weil der Mann und die Frau nun nachts im Keller streiten, auch in dieser Nacht.
Der Mann versteckt sich im hinteren Kellerraum. Die Tür hat keinen Schlüssel. Er drückt sie zu und die Frau drückt sie auf. Der Mann will schlafen, die Frau will reden. „Lass die Tür zu!“ schreit der Mann. Der Mann ist müde. Da ist ein Schluchzen in seiner Stimme, das da nicht hingehört; wenn der Mann schreit und die Frau weint, das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, als mein Vater mit schluchzender Stimme ruft: „Ich bring mich um, ich bring mich um, wenn du noch einmal die Tür aufmachst, nehm ich das Auto und fahre mich gegen die Wand.“
Als ich diesmal barfuß die Treppe herunterrenne und neben meiner weinenden Mutter im Kellerflur stehe, bietet sie keinen Funken Trost, nur mehr Tränen, einen Blick, der mich wegwünscht, und die Worte: „Du kannst nicht hier sein, ich habe dafür keine Kraft. Ich habe keine Kraft mehr.“
Also gehe ich, glaube ich, ich weiß nicht mehr, wohin.
Treppe II
All die folgenden Jahre renne ich jeden Tag nach der Schule in den Keller, um zu sehen, ob er dort hängt. All die folgenden Jahre sitze ich nächtelange unter dem Schwung der Treppe in den ersten Stock, damit er nicht gehen kann, ohne dass ich es merke. Manchmal geht er doch und ich habe solche Angst, doch wenn er zurückkommt, bin ich nicht erleichtert, weil es nicht vorbei ist. Ich schäme mich und wenn er jetzt stirbt, bin ich schuld.
Epilog
Heute bin ich 21 Jahre alt. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich merkte, dass ich nicht als Diplomatin aus einer anderen Welt entsandt wurde, aber irgendwann erkannte ich, dass diese Geschichte nicht die Realität war.
Es folgten viele Jahre, bis ich erkannte, dass diese Geschichte dennoch die Wahrheit erzählt. An dieses Erkennen hingegen erinnere ich mich gut, zumindest so gut, wie ich mich heute überhaupt an etwas erinnern kann. Es ist vier Tage her. Ich schrieb abends auf:
Ich weiß, dass da mal ein Kind war, und ich schätze, dieses Kind war ich.
Ich weiß, dass dieses Kind aufgewachsen ist mit Blick auf die Berge und Gras zwischen den Zehen. Ich erinnere mich an das Kind, aber ich spüre es nicht.
Ich spüre nicht. Ich bin eine Sammlung von Zuständen, von Handlungen, von Gedankengängen. Ich bin nicht mehr als die Summer meiner Teile, ich glaube, ich bin nicht mal das.
Vielleicht hatte dieses Kind von damals Recht. Vielleicht sind wir beide auf der falschen Seite des Spiegels aufgewachsen. Ich glaube, wir wurden zurückgetauscht, hineingestellt in das Leben der jeweils anderen. Ob sie auch so einsam und verloren ist wie ich?
Ich weiß, dass es wahr ist:
Ich hatte eine Aufgabe. Ich hatte einen Auftrag. Ich sollte Frieden bringen. Ich habe immer wieder versagt.
Ich war nicht die Tochter, die sein sollte.
Ich konnte keinen retten.
Ich war falsch und ich war fremd im Haus der Menschen.
Ich bin fremd in ihrer Welt.
Ich stehe hier in diesem Leben, als hätte mir jemand eine Handvoll Erinnerungen in die Hand gedrückt und gesagt: „Das ist bist du, das ist dein Leben“, aber ich kann nicht begreifen, dass es meines ist. Als wäre ich in einer Welt aufgewachsen, an die ich mich nicht erinnern kann, und in einer fremden aufgewacht.
Ich weiß, dass ich diese Erinnerungen zu meinen machen muss, weil jeder Mensch eine Geschichte braucht. Ich weiß auch, dass ich sie nicht will.
Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird.
Prolog
Dies ist ein geheimer Bericht. Ich muss vorsichtig sein.
Seid nachsichtig mit mir, wenn dieser Bericht krumm und kantig wird. Ich bin zwar Botschafterin, dennoch bin ich auch Kind, auf eine Weise.
Ich bin nun seit acht Jahren in der Welt der Menschen. Damals wurde ich aus der Monsterwelt entsandt, um mit einer Menschenfamilie zu leben. Ich bin eine Diplomatin zwischen den Welten, ein Monster, das aufwächst in einem Haus der Menschen. In diesem Haus treffen die Welt der Monster und die Welt der Menschen zusammen, hinten im Keller, unter dem Dach und im großen Badezimmer im ersten Stock. Dort gehe ich hin, um den Monstern Bericht zu erstatten vom Leben der Menschen, denn die Monster haben Angst vor den Menschen wie die Menschen vor ihnen und ich muss ihnen erzählen und die Angst nehmen und Frieden bringen.
Doch ich glaube, ich habe Fehler gemacht. Ich habe mich verstricken lassen. Ich weiß nicht, an wen ich diesen Bericht richte, denn keine der Seiten darf die volle Wahrheit wissen, nicht die Monster und erst recht nicht die Menschen.
Dies ist der geheime Bericht des achten Jahres im Haus der Menschen.
Küchentisch I
Der Mann ist ein einfach zu lösendes Problem. Ihn zu lieben schmerzt, wenn er gebückt mit glasigen Augen am Küchentisch sitzt und seine zitternden Hände die nächste Tablette aus der Packung drücken; ihn zu lieben irritiert, wenn seine Faust auf das gemaserte Holz der Tischplatte trifft und seine donnernde Stimme auf mein Trommelfell. Die Frau weint vor Ungerechtigkeit, wenn ich den Mann liebe. Also beschließe ich, ihn nicht zu lieben und zu vergessen, dass ich ihn vermisse. Wie ich sagte: Der Mann ist ein einfach zu lösendes Problem.
Die Frau ist kompliziert. Sie kocht im Winter warme Suppen und singt nachts Lieder von den Sternen. Es ist wichtig, sie zu lieben, denn sie erklärt mir, wie man lebt. Es ist schön, sie zu lieben, wenn sie summend zum letzten Album der Beatles tanzt. Doch sie zu lieben schmerzt, wenn ihre Tränen knöchelhoch auf dem Küchenboden stehen, und sie zu lieben irritiert, wenn ihre Stimme starr wird und ihre Worte richtend. Dies ist ein schwer zu lösendes Problem.
Küchentisch II
Die Tage am Küchentisch sind lang und voller Fallstricke.
Sonntags beruft die Frau den Familien-Rat ein, weil die Familie sie kaputt macht. „Ihr bringt mich vor die Hunde“, sagt sie, oder „Ihr bringt mich ins Grab“.
Sie verlangt nach einer Lösung und manchmal suche ich danach, doch es ist ein gefährliches Unterfangen.
Sie knüpft Fallstricke, weil sie es kann. Die Worte gehorchen ihr wie keinem sonst.
„Schau mich an!“, zischt sie, wenn ich den Blick auf die Tischplatte richte.
Sie zieht den Blick aus meinen Augen und die Gedanken aus meinem Kopf und verdreht sie, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten und was richtig oder falsch ist.
Ich darf nicht schweigen, denn dann sagt sie „Bin ich es nicht einmal wert, dass ihr mit mir redet?“ oder „Du bist wie dein Vater“, sie sagt es voller Verachtung, und sie hat Recht.
Ich darf nicht schweigen, doch zu sprechen ist gefährlich. Ich suche verzweifelt nach den richtigen Worten, aber in meinem Kopf verrenne ich mich an allen Ecken und Enden. Alle Gedanken, die ich beginne, fange ich wieder ein, weil ich weiß, dass sie falsch sind. Ich stecke fest, bin zu tief verstrickt, meine Gedanken stehen still.
Es gibt einen Ausweg. Er ist hässlich und falsch.
Es wird alles gut, wenn ich verspreche, dass ich alles besser machen werde, dass ich besser sein werde. Dann hört sie auf zu weinen und zu schreien und all meine toten und falschen Gedanken aus meinem Kopf zu ziehen.
Also verspreche ich es, auch wenn ich weiß, dass ich das nicht kann, und ich hasse mich fürs Lügen, doch ich lüge einfach weiter, damit ich endlich, endlich allein sein kann und nicht für alle Ewigkeit an diesem Küchentisch sitzen muss.
Ich muss lügen, denn die Wahrheit ist: Ich bin nicht gut, ich bin dreckig und böse und faul; die Wahrheit ist auch: Du tust mir weh und ich halte dich nicht aus, doch nichts von beidem kann ich sagen, sonst ginge die Welt an Ort und Stelle unter.
Also lüge ich, bis sie leiser weint und ich aufstehen kann und gehen und ich endlich allein bin, allein mit meinen Lügen und der Schuld.
Neben dem Herd
Nachts ist es simpel. Nachts schreit der Mann und die Frau weint, es gibt Gut und Böse, Richtig und Falsch, und ich bin auf der richtigen Seite. Sie stehen unten neben dem Herd und ich liege oben im Bett, aber wenn ich die Zimmertür einen Spalt öffne, kann ich zuhören und aufpassen. Manchmal hoffe ich, dass etwas passiert, dass sie sich schlagen oder treten, denn dann darf ich die Polizei rufen, dann kommt jemand und passt auf sie auf. Dann kann ich endlich schlafen.
Aber als dann etwas passiert, rufe ich nicht die Polizei. Ich rufe niemanden.
Als der Mann brüllt „Ich bring dich um“ bin da nur ich. Ich renne nach unten in die Küche und da bin zwischen ihnen nur ich, und vielleicht ist da ein Messer oder vielleicht auch nicht und ich weiß es nicht, weil ich es gar nicht wissen will, während ich barfuß im Pyjama auf den Küchenfließen stehe und dann ich weiß gar nichts mehr.
Kinderzimmer
Später liege ich im Bett, das weiß ich wieder. Die Tür ist wieder offen. Die Frau kommt herein. „Wenn du nicht mal deine Tür schließt, musst du dich nicht wundern, wenn du sowas mitbekommst!“, schimpft sie. Dann tut es ihr leid. Sie setzt sich auf die Bettkante. „Der Papa tut sich nichts“, sagt sie, und ich bin verwirrt, weil er doch ihr etwas machen wollte, und erst Jahre später auf einer Kellertreppe werde ich verstehen, dass ich mich verhört habe, nur um einen Buchstaben in seinem Schreien. Doch damals verstehe ich nicht, aber es ist mir auch egal, ich nehme gierig den Trost aus ihren Worten.
Aber dann legt sie sich weinend zu mir ins Bett, und ich streichle ihre Haare und küsse ihre nassen Wangen und muss all ihren Trost zurückgeben und noch viel mehr und es schmerzt mehr, ihn zu verlieren, als einfach ohne ihn zu sein.
Treppe I
Dies ist ein Nachtrag. Ich bin nun 14 Jahre in der Menschenwelt. Zwei Treppen sind an dieser Stelle relevant: Erst die Treppe, die in den Keller führt, und in Folge die geschwungene Treppe in den ersten Stock, unter deren Stufen man sich so gut verstecken kann.
Die Kellertreppe ist wichtig, weil der Mann und die Frau nun nachts im Keller streiten, auch in dieser Nacht.
Der Mann versteckt sich im hinteren Kellerraum. Die Tür hat keinen Schlüssel. Er drückt sie zu und die Frau drückt sie auf. Der Mann will schlafen, die Frau will reden. „Lass die Tür zu!“ schreit der Mann. Der Mann ist müde. Da ist ein Schluchzen in seiner Stimme, das da nicht hingehört; wenn der Mann schreit und die Frau weint, das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, als mein Vater mit schluchzender Stimme ruft: „Ich bring mich um, ich bring mich um, wenn du noch einmal die Tür aufmachst, nehm ich das Auto und fahre mich gegen die Wand.“
Als ich diesmal barfuß die Treppe herunterrenne und neben meiner weinenden Mutter im Kellerflur stehe, bietet sie keinen Funken Trost, nur mehr Tränen, einen Blick, der mich wegwünscht, und die Worte: „Du kannst nicht hier sein, ich habe dafür keine Kraft. Ich habe keine Kraft mehr.“
Also gehe ich, glaube ich, ich weiß nicht mehr, wohin.
Treppe II
All die folgenden Jahre renne ich jeden Tag nach der Schule in den Keller, um zu sehen, ob er dort hängt. All die folgenden Jahre sitze ich nächtelange unter dem Schwung der Treppe in den ersten Stock, damit er nicht gehen kann, ohne dass ich es merke. Manchmal geht er doch und ich habe solche Angst, doch wenn er zurückkommt, bin ich nicht erleichtert, weil es nicht vorbei ist. Ich schäme mich und wenn er jetzt stirbt, bin ich schuld.
Epilog
Heute bin ich 21 Jahre alt. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich merkte, dass ich nicht als Diplomatin aus einer anderen Welt entsandt wurde, aber irgendwann erkannte ich, dass diese Geschichte nicht die Realität war.
Es folgten viele Jahre, bis ich erkannte, dass diese Geschichte dennoch die Wahrheit erzählt. An dieses Erkennen hingegen erinnere ich mich gut, zumindest so gut, wie ich mich heute überhaupt an etwas erinnern kann. Es ist vier Tage her. Ich schrieb abends auf:
Ich weiß, dass da mal ein Kind war, und ich schätze, dieses Kind war ich.
Ich weiß, dass dieses Kind aufgewachsen ist mit Blick auf die Berge und Gras zwischen den Zehen. Ich erinnere mich an das Kind, aber ich spüre es nicht.
Ich spüre nicht. Ich bin eine Sammlung von Zuständen, von Handlungen, von Gedankengängen. Ich bin nicht mehr als die Summer meiner Teile, ich glaube, ich bin nicht mal das.
Vielleicht hatte dieses Kind von damals Recht. Vielleicht sind wir beide auf der falschen Seite des Spiegels aufgewachsen. Ich glaube, wir wurden zurückgetauscht, hineingestellt in das Leben der jeweils anderen. Ob sie auch so einsam und verloren ist wie ich?
Ich weiß, dass es wahr ist:
Ich hatte eine Aufgabe. Ich hatte einen Auftrag. Ich sollte Frieden bringen. Ich habe immer wieder versagt.
Ich war nicht die Tochter, die sein sollte.
Ich konnte keinen retten.
Ich war falsch und ich war fremd im Haus der Menschen.
Ich bin fremd in ihrer Welt.
Ich stehe hier in diesem Leben, als hätte mir jemand eine Handvoll Erinnerungen in die Hand gedrückt und gesagt: „Das ist bist du, das ist dein Leben“, aber ich kann nicht begreifen, dass es meines ist. Als wäre ich in einer Welt aufgewachsen, an die ich mich nicht erinnern kann, und in einer fremden aufgewacht.
Ich weiß, dass ich diese Erinnerungen zu meinen machen muss, weil jeder Mensch eine Geschichte braucht. Ich weiß auch, dass ich sie nicht will.
Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird.