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Sommer 2009
Dutzende Zelte stehen auf der Wiese, die kleinen weißen Agadirs zum Schlafen und die großen schwarzen Jurten, um sich vor dem Regen zu verstecken oder abends am Feuer zu sitzen und die durchnässten Wanderschuhe zu trocknen. Jetzt ist schon kein Abend mehr, es ist mitten in der Nacht, die anderen aus meiner Pfadfinder:innengruppe schlafen tief und fest. Ich laufe über den Zeltplatz zu den Toilettenhäuschen, es ist dunkel, irgendetwas huscht zwischen den Bäumen neben der Wiese, und die Toiletten sind nur mit roten Grabkerzen beleuchtet. Ganz schön gruselig ist es, denke ich mir, und tröste mich mit dem Gedanken, dass meine große Schwester in einem der Zelte in meinem Rücken liegt, und obwohl sie schläft, bin ich mir sicher, sie passt auf mich auf. „Wenn dann meine kleine Schwester bald auch mit ins Lager fährt“, denke ich mir, „dann passe ich auch so gut auf sie auf. Dann laufe ich nachts mit ihr über den Zeltplatz und warte vor den grablichtbeleuchteten Toiletten und bringe sie sicher zurück ins Zelt.“ Für einen Moment bin ich eine glückliche und stolze große Schwester. Dann fällt mir ein, dass ich keine kleine Schwester habe und ich bin überrascht davon, wie sehr mich das überrascht. Ratlos stapfe ich weiter über den Zeltplatz und blicke im Mondlicht auf meine Hände, die nie eine kleine Schwester halten werden, nachts auf dem Weg über einen Zeltplatz. |
Oktober 2022
Der Arzt ist mir suspekt. Nicht nur weil er Arzt ist, sondern auch, weil ich im Frühjahr schonmal bei ihm war, als ich noch eine Klinik gesucht habe, und er mir eine ans Herz gelegt hat, die homöopathisch arbeitet und mit Ayurveda. Trotzdem gehe ich wieder zu ihm, um mir nach der Klinik meine Rezepte ausstellen zu lassen, weil man bei ihm keinen Termin braucht und ich nicht telefonieren will. Also sitze ich ihm wieder gegenüber, ein halbes Jahr später, er blickt auf meinen vorläufigen Entlassungsbericht und sagt „Trauma also, ah ja“. „So ein bisschen“, sage ich. Er blickt mich an, irgendwie gelichzeitig besorgt und fasziniert. „Sie haben nicht zufälligerweise ein Geschwisterkind gehabt, das verstorben ist?“, fragt er plötzlich. Der Körper lacht. „Nein“, sagt die Stimme des Körpers. Doch dann fügt sie hinzu: „Fast schon gruselig, dass Sie das sagen, so nah dran war noch keiner an der Wahrheit“, ich weiß nicht, was das bedeutet, dann lacht der Körper wieder und ich mache mir keine Gedanken. „Wissen Sie“, sagt der Arzt, „ich habe da nämlich eine Theorie. Ich habe so viele Patientinnen, die ein Geschwisterkind verloren haben und deswegen ganz schwer leiden, warten Sie, ich habe sogar ein Buch zu dem Thema“. Abwesend nicke ich zustimmend zu seiner Theorie und blättere in dem kleinen Buch, dass er mir in die Hand gedrückt hat. Der Körper lächelt höflich und interessiert. Nur im Innen wird nicht gelächelt. Im Innen weint irgendwer, vielleicht auch mehrere, und irgend jemand schreit.
13. Dezember 2023, gegen 14:00 Uhr
Irgend jemand schreibt „Schwester“ zwischen all die grusligen Dinge. Das darf dort nicht stehen. Sie gehört da nicht hin, zwischen Worte über den Teufel und Pillen und Knochen und ausgezogener Kleidung. Nicht meine zu oft, zu selten geliebte große Schwester. „Das darf nicht sein“, schreibe ich also wie betrunken, und bin wieder weg. Als ich zurückkomme, steht dort nur „andere Schwester“.
15. Dezember 2023, 17:35 Uhr
Ich erinnere mich nicht, weshalb ich diesen Text schreibe. Da war irgendwas mit einer Schwester, glaube ich, doch die Erinnerung, die vor ein paar Stunden erst in mir aufgewacht ist, ist verschwunden.
Ich hoffe, sie kommt zurück, weil ich die Fragen, das Nicht-Wissen nicht aushalte.
17:39 Uhr
Die Erinnerung ist zurück gekommen, oder zumindest die Erinnerung an die Erinnerung, und nun wünschte ich, sie wäre für immer fort gewesen. Nun erkenne ich, wie viel schwerer als das Nicht-Wissen das Wissen wiegt.
Gleicher Tag, 15. Dezember 2023, gegen 12:50 Uhr
Ich sitze in der Therapie und erinnere mich an Pillen, die ich nicht nehmen wollte, und ich frage mich, wo mein Widerstandsgeist damals geblieben ist, oder zumindest die Vernunft, zu sehen, dass manche Dinge schrecklicher sind als der Tod. Erpressung sei es gewesen, ich hätte keine andere Wahl gehabt. Dennoch denke ich mir: „Wie konnte ich so bescheuert sein, ihm zu glauben, zu glauben, er würde meine Mutter umbringen, das würde er doch nie machen, nicht der Herr Doktor, nicht der Kinderarzt mit den Kuscheltieren im Warteraum und dem Mobile in Sprechzimmer.“ Doch plötzlich weiß ich, es war nicht bescheuert. Weil da mal jemand anderes war. Ein kleines Kind. Da ist das Bild von einem kleinen Kind. Erst denke ich, das bin vielleicht ich, doch da sind wieder die Worte: „Andere Schwester.“
17:44 Uhr
Ich weiß nicht, ob sonst noch etwas gesagt wurde im Innen. Ich weiß nicht mehr, woran genau ich mich erinnert habe. Nur, dass ich plötzlich wusste, dass es einen Grund gab, ihm zu glauben, und dieser Grund hatte einen Namen, den ich, glaube ich, vorhin wusste und nun vergessen habe. Dieser Grund hatte kleine Hände, die ich halten wollte, nachts auf dem Weg über einen Zeltplatz.
17:46 Uhr
Ich stelle mir vor, wie ich deine Hand halte. Deine kleinen Hände, nachts auf dem Weg über einen Zeltplatz.
Der Arzt ist mir suspekt. Nicht nur weil er Arzt ist, sondern auch, weil ich im Frühjahr schonmal bei ihm war, als ich noch eine Klinik gesucht habe, und er mir eine ans Herz gelegt hat, die homöopathisch arbeitet und mit Ayurveda. Trotzdem gehe ich wieder zu ihm, um mir nach der Klinik meine Rezepte ausstellen zu lassen, weil man bei ihm keinen Termin braucht und ich nicht telefonieren will. Also sitze ich ihm wieder gegenüber, ein halbes Jahr später, er blickt auf meinen vorläufigen Entlassungsbericht und sagt „Trauma also, ah ja“. „So ein bisschen“, sage ich. Er blickt mich an, irgendwie gelichzeitig besorgt und fasziniert. „Sie haben nicht zufälligerweise ein Geschwisterkind gehabt, das verstorben ist?“, fragt er plötzlich. Der Körper lacht. „Nein“, sagt die Stimme des Körpers. Doch dann fügt sie hinzu: „Fast schon gruselig, dass Sie das sagen, so nah dran war noch keiner an der Wahrheit“, ich weiß nicht, was das bedeutet, dann lacht der Körper wieder und ich mache mir keine Gedanken. „Wissen Sie“, sagt der Arzt, „ich habe da nämlich eine Theorie. Ich habe so viele Patientinnen, die ein Geschwisterkind verloren haben und deswegen ganz schwer leiden, warten Sie, ich habe sogar ein Buch zu dem Thema“. Abwesend nicke ich zustimmend zu seiner Theorie und blättere in dem kleinen Buch, dass er mir in die Hand gedrückt hat. Der Körper lächelt höflich und interessiert. Nur im Innen wird nicht gelächelt. Im Innen weint irgendwer, vielleicht auch mehrere, und irgend jemand schreit.
13. Dezember 2023, gegen 14:00 Uhr
Irgend jemand schreibt „Schwester“ zwischen all die grusligen Dinge. Das darf dort nicht stehen. Sie gehört da nicht hin, zwischen Worte über den Teufel und Pillen und Knochen und ausgezogener Kleidung. Nicht meine zu oft, zu selten geliebte große Schwester. „Das darf nicht sein“, schreibe ich also wie betrunken, und bin wieder weg. Als ich zurückkomme, steht dort nur „andere Schwester“.
15. Dezember 2023, 17:35 Uhr
Ich erinnere mich nicht, weshalb ich diesen Text schreibe. Da war irgendwas mit einer Schwester, glaube ich, doch die Erinnerung, die vor ein paar Stunden erst in mir aufgewacht ist, ist verschwunden.
Ich hoffe, sie kommt zurück, weil ich die Fragen, das Nicht-Wissen nicht aushalte.
17:39 Uhr
Die Erinnerung ist zurück gekommen, oder zumindest die Erinnerung an die Erinnerung, und nun wünschte ich, sie wäre für immer fort gewesen. Nun erkenne ich, wie viel schwerer als das Nicht-Wissen das Wissen wiegt.
Gleicher Tag, 15. Dezember 2023, gegen 12:50 Uhr
Ich sitze in der Therapie und erinnere mich an Pillen, die ich nicht nehmen wollte, und ich frage mich, wo mein Widerstandsgeist damals geblieben ist, oder zumindest die Vernunft, zu sehen, dass manche Dinge schrecklicher sind als der Tod. Erpressung sei es gewesen, ich hätte keine andere Wahl gehabt. Dennoch denke ich mir: „Wie konnte ich so bescheuert sein, ihm zu glauben, zu glauben, er würde meine Mutter umbringen, das würde er doch nie machen, nicht der Herr Doktor, nicht der Kinderarzt mit den Kuscheltieren im Warteraum und dem Mobile in Sprechzimmer.“ Doch plötzlich weiß ich, es war nicht bescheuert. Weil da mal jemand anderes war. Ein kleines Kind. Da ist das Bild von einem kleinen Kind. Erst denke ich, das bin vielleicht ich, doch da sind wieder die Worte: „Andere Schwester.“
17:44 Uhr
Ich weiß nicht, ob sonst noch etwas gesagt wurde im Innen. Ich weiß nicht mehr, woran genau ich mich erinnert habe. Nur, dass ich plötzlich wusste, dass es einen Grund gab, ihm zu glauben, und dieser Grund hatte einen Namen, den ich, glaube ich, vorhin wusste und nun vergessen habe. Dieser Grund hatte kleine Hände, die ich halten wollte, nachts auf dem Weg über einen Zeltplatz.
17:46 Uhr
Ich stelle mir vor, wie ich deine Hand halte. Deine kleinen Hände, nachts auf dem Weg über einen Zeltplatz.
17:47 Uhr
Kurz war ich traurig, eben. Fast zumindest. Dann: Hör auf. Hör auf zu lügen. Lösch diesen Text. Du verdammte Lügnerin. Willst du das jetzt wirklich noch vier Wochen durchziehen, dein Gejammere, dein erfundenes Grauen? Und dann? Irgendwann musst du aufhören zu lügen, Aufmerksamkeit wird dich nicht heilen, nur das Erkennen, dass du gelogen hast und nichts passiert ist, es ist nichts passiert. Fang endlich mal an, aufrichtig zu sein und Verantwortung zu übernehmen, du verlogenes Stück Scheiße. Ich hasse mich selbst, gerade. Für das Lügen, für das Schreien nach Aufmerksamkeit. Es fühlt sich beschissen an, mir ist schlecht, ich will kotzen, bis all das Böse und Verlogene meinen Körper verlassen hat, ein Teil von mir will „Lügnerin“ in meine Stirn schneiden, oder auf meine Wangen, damit jede:r sieht, wer ich bin, was ich bin: ein verlogenes Stück Scheiße. |
Dennoch rüttle ich nicht daran, dass ich mich für meine Lügen hasse, denn ich glaube, das ist vielleicht leichter, als mich zu hassen, dafür, dass ich ein paar kleine Hände nicht halten konnte in dem Moment, in dem es am meisten gezählt hätte.
Dass ich deine kleinen Hände nicht halten konnte, in dem Moment, in dem es am meisten gezählt hätte.
Dass ich deine kleinen Hände nicht halten konnte, in dem Moment, in dem es am meisten gezählt hätte.