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Hörversion des Textes (ohne Ende/"Nachtrag")
(Kleiner Versprecher: Ich dachte natürlich nicht jahrzehnte-, sondern jahrelang, dass ich meine Migräne fake) |
Sommer 2009
Dutzende Zelte stehen auf der Wiese, die kleinen weißen Agadirs zum Schlafen und die großen schwarzen Jurten, um sich vor dem Regen zu verstecken oder abends am Feuer zu sitzen und die durchnässten Wanderschuhe zu trocknen. „Reif für die Insel“ ist das Motto des Pfadfinder-Lagers. Die Leiter:innen haben kleine Ausweise für jede:n gebastelt, wir tuen alle so, als wären wir in unserer eigenen kleinen Mikronation, als wäre unser Zeltplatz seine eigene Welt. „Wenn der ganze Stamm ins Lager fährt, regnet es mindestens einmal am Tag“, ist die erste, ungeschriebene Regel unserer kleinen Nation. Der Himmel hält sich daran. Es ist anders hier, und ich glaube, hier kann ich atmen. Die zweite ungeschriebene Regel lautet „Wer ihren:seinen Ausweis verliert, muss nach Hause!“, das war ein Witz, den die Leiter:innen gemacht haben, aber in meinem achtjährigen Kopf war es ein Gesetz. Abends weinen manche Kinder im Zelt, Hannah und Sabrina, das weiß ich noch, weil sie Heimweh haben und ihr Zuhause vermissen. |
Auch ich habe einmal im Zelt geweint. Da hatte ich meinen Ausweis verloren, weil ich bei der letzten Wanderung zu viel an dem Schlüsselband herumgespielt habe und an dem kleinen Karabiner geklickt und irgendwann ist mein Ausweis herausgefallen, ohne dass ich es gemerkt hätte. Deswegen saß ich im Zelt und habe geweint,
weil ich mir sicher war, ich muss jetzt nach Hause. Ich weiß nicht mehr, warum ich das so
schrecklich fand. Ich war doch glücklich, zuhause. Trotzdem habe ich stundenlang geweint,
bis meine Schwester nochmal den ganzen Weg abgegangen ist und meinen Ausweis
gefunden und ihn wieder an mein Schlüsselband gehängt hat, das ich angsterfüllt
umklammerte.
In der folgenden Nacht laufe ich über den schlammigen Zeltplatz zu den Toilettenhäuschen,
es ist dunkel, irgendetwas huscht zwischen den Bäumen neben der Wiese, und die Toiletten
sind nur mit roten Grabkerzen beleuchtet. Ganz schön gruselig ist es, denke ich mir, und
tröste mich mit dem Gedanken, dass meine große Schwester in einem der Zelte in meinem
Rücken liegt, und obwohl sie schläft, bin ich mir sicher, sie passt auf mich auf. „Wenn dann
meine kleine Schwester bald auch mit ins Lager fährt“, denke ich mir, „dann passe ich auch
so gut auf sie auf. Dann laufe ich nachts mit ihr über den Zeltplatz und warte vor den
grablichtbeleuchteten Toiletten und bringe sie sicher zurück ins Zelt.“ Für einen Moment bin
ich eine glückliche und stolze große Schwester. Dann fällt mir ein, dass ich keine kleine
Schwester habe und ich bin überrascht davon, wie sehr mich das überrascht. Ratlos stapfe
ich weiter über den Zeltplatz und blicke im Mondlicht traurig auf meine Hände, die nie eine
kleine Schwester halten werden, nachts auf dem Weg über einen schlammigen Zeltplatz.
15. Dezember 2023, 14:30 Uhr
„Was soll das?“, denke ich. „Hör auf, da irgendwas zusammen zu spinnen. Zufall, das ist alles.
Weißt du, wie viel du denkst? Tausend Gedanken gleichzeitig, in einem Leben von über zwei
Jahrzehnten. Da sind auch ein paar absurde dabei. Und mit der Zeit vielleicht auch ein paar
absurde über das gleiche Thema. Wenn ein Affe unendlich lange auf einer Schreibmaschine
herumtippt, wird er irgendwann alle Werke der Nationalbibliothek Frankreichs schreiben,
besagt das Theorem des endlos tippenden Affen. Wenn du genug denkst, ist da irgendwo
auch eine Geschichte über eine andere Schwester dabei. Zufall.“ „Von all den tausenden
Gedanken vergesse ich die meisten auf der Stelle – Wieso nicht diese? Wieso erinnere ich
mich, wie sehnsuchtsvoll und schmerzerfüllt ich an meine kleine Schwester gedacht habe,
vor 15 Jahren?“, frage ich mich. „Weil du gerne leidest“, antworte ich mir. „Könntest du
wenigstens ein bisschen leiser tun.“ Ich schreibe trotzdem weiter. Noch liest es ja keine:r,
noch kann ich leise leiden. Ob ich gehört werden will, das werde ich später beschließen.
Oktober 2022
Der Arzt ist mir suspekt. Nicht nur weil er Arzt ist, sondern auch, weil ich im Frühjahr
schonmal bei ihm war, als ich noch eine Klinik gesucht habe, und er mir eine ans Herz gelegt
hat, die homöopathisch arbeitet und mit Ayurveda. Trotzdem gehe ich wieder zu ihm, um
mir nach der Klinik meine Rezepte ausstellen zu lassen, weil man bei ihm keinen Termin
braucht und ich nicht telefonieren will. Also sitze ich ihm wieder gegenüber, ein halbes Jahr
später, er blickt auf meinen vorläufigen Entlassungsbericht und sagt „Trauma also, ah ja“.
„So ein bisschen“, sage ich. Er blickt mich an, irgendwie gelichzeitig besorgt und fasziniert.
„Sie haben nicht zufälligerweise ein Geschwisterkind gehabt, das verstorben ist?“, fragt er
plötzlich. Der Körper lacht. „Nein“, sagt die Stimme des Körpers. Doch dann fügt sie hinzu:
„Fast schon gruselig, dass Sie das sagen, so nah dran war noch keiner an der Wahrheit“, ich
weiß nicht, was das bedeutet, dann lacht der Körper wieder und ich mache mir keine
Gedanken. „Wissen Sie“, sagt der Arzt, „ich habe da nämlich eine Theorie. Ich habe so viele
Patientinnen, die ein Geschwisterkind verloren haben und deswegen ganz schwer leiden,
warten Sie, ich habe sogar ein Buch zu dem Thema“. Abwesend nicke ich zustimmend zu
seiner Theorie und blättere in dem kleinen Buch, dass er mir in die Hand gedrückt hat. Der
Körper lächelt höflich und interessiert. Nur im Innen wird nicht gelächelt. Im Innen weint
irgendwer, vielleicht auch mehrere, und irgend jemand schreit.
15. Dezember 2023, 14:54 Uhr
Ich bin noch gar nicht fertig mit dem letzten Abschnitt. Aber ich muss aufhören, zu
schreiben, weil der Körper sich gerade auflöst und meine tausenden Gedanken sich in eine
drückende Leere verwandeln. Ich denke jetzt an ein Einhorn auf einer Blumenwiese – das
hat Sophia mir mal beigebracht –, an Mendelssohns Violinkonzert in e-moll, ich denke an
keine Schwester, nicht an die große, die ich versuche, zu lieben und manchmal nicht zu
lieben, weil es schmerzt, was mich langsam in den Wahnsinn treibt, und nicht an die kleine,
die es wahrscheinlich nie gab. Es gab sie nie. Ich denke jetzt an ein Einhorn auf einer
Blumenwiese.
17:11 Uhr
Bis eben war ich in der Gestaltungstherapie. Wir haben Schatzkisten gebastelt, für einen
persönlichen Schatz, ich habe eine kleine Kiste gebaut für die Oktopusgeschichten – für das
erste Exemplar, dass ich in der Hand halten werde, wenn sie nächstes Jahr veröffentlicht
werden. „Für deine Sammlung von Lügen“, sagt etwas in mir, „für deine Märchen und
Legenden.“
Gleichzeitig: Meine Kopfschmerzen sind weg, oder zumindest zurück auf dem üblichen
Niveau. Den ganzen Tag hat mein Kopf gehämmert, trotz Schmerzmittel, weil ich einfach
keine Triptane nehmen wollte – so schlimm ist es doch gar nicht, es ist sicher keine Migräne.
Die Triptane, die ich dann irgendwann doch genommen habe, haben gewirkt wie ein
Wunder.
Ich denke daran, wie ich jahrelang dachte, ich spiele meine Migräne nur. „Das sind ganz
normale Kopfschmerzen, das kannst du doch nicht Migräne nennen, reiß dich mal
zusammen.“ Dann habe ich vor einem Jahr zum ersten Mal Triptane genommen, und ich
habe geweint vor Erleichterung, als sie gewirkt haben, als endlich etwas gewirkt hat.
Ich wünschte, es gäbe solche Mittel auch gegen Erinnerungen – damit sie weg sind,
zumindest für eine Weile, das zum einen, zum anderen aber, vor allem aber, damit ich weiß,
ob es tatsächlich Erinnerungen sind oder skurrile Tagträume.
Fast will ich der Landauer Polizei eine Mail schreiben, ob irgend etwas bekannt ist über einen
unerklärten Todesfall oder ein unerklärtes Verschwinden eines weiblichen Säuglings oder
Kleinkindes, irgendwann zwischen 2003 und 2006. Aber ich traue mich nicht: Kaum ertragen
könnte ich die Scham über meine Lügen, wenn sich bestätigt, dass ich mir alles ausgedacht
habe, nicht ertragen könnte ich das Grauen, wenn sich dies nicht bestätigt. Ich schreibe also
keine Mail, ich schreibe weiter diesen Text.
Oktober 2022, II
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, was ich hierzu noch schreiben wollte. Ich weiß nicht
mehr, was geschah, nachdem der Arzt von toten Geschwistern geredet hat und
irgendjemand im Innen –
15. Dezember 2023, 17:26 Uhr
Ich kann mich kaum bewegen, aber immerhin kann ich mich wieder bewegen. Die
Buchstaben erscheinen langsam, ganz langsam auf dem Bildschirm. Ich will an ein Einhorn
auf einer Blumenwiese denken, aber mein Kopf blockiert. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe,
diese Worte zu schreiben, aber ich schreibe einfach weiter, weil es das Einzige ist, was mich
hier hält, wachhält, in Bewegung hält ich habe keine Gedanken ich weiß nicht was ich
schreiben soll ich schreibe einfach weiter ich schreibe einfach weiter ich darf nicht immer
das gleiche schreiben sonst bin ich gleich wieder weg weg weg schreib etwas anderes hör
nicht auf zu denken hör nicht –
17:34 Uhr
Wieder da.
13. Dezember 2023, nachmittags
Irgend jemand schreibt „Schwester“ zwischen all die grusligen Dinge. Das darf dort nicht
stehen. Sie gehört da nicht hin, zwischen Worte über den Teufel und Pillen und Knochen und
ausgezogener Kleidung. Nicht meine zu oft, zu selten geliebte große Schwester. „Das darf
nicht sein“, schreibe ich also wie betrunken, und bin wieder weg. Als ich zurückkomme, steht
dort nur „andere Schwester“.
15. Dezember 2023, 17:35 Uhr
Ich will über heute Vormittag schreiben. Über die Erinnerung, die in der Therapie plötzlich da
war, die Erinnerung, wegen welcher ich diesen Text schreibe, irgendwas mit einer
Schwester, der anderen Schwester. Aber die Erinnerung ist weg, genauso wie die Erinnerung
an die Erinnerung. Ich will mich erinnern, wie ich mich erinnert habe, rufe mir den Raum in
den Kopf, das Gespräch, aber ich weiß nicht, wo ich anknüpfen muss. Was habe ich wann
erinnert? Irgendwann gegen Ende der Stunde. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich hoffe, die
Erinnerung kommt zurück, weil ich die Fragen, das Nicht-Wissen nicht aushalte, aber ich
weiß jetzt schon: Wenn sie zurückkommt, werde ich mir wünschen, sie wäre für immer fort
gewesen. Wenn sie zurückkommt, werde ich erkennen, wie viel schwerer als das Nicht-
Wissen das Wissen wiegt.
17:38 Uhr
Ich weiß noch, dass da ein Bild war, das weiß ich noch. Ein kleines Kind.
Jetzt weiß ich wieder mehr, ich muss es schnell aufschreiben, bevor es weg ist:
Gleicher Tag, 15. Dezember 2023, gegen 12:50 Uhr
Erpressung. Es geht um Erpressung. Ich denke mir „Wie konnte ich so bescheuert sein, ihm
zu glauben, zu glauben, er würde meine Mutter umbringen, das würde er doch nie machen,
nicht der Herr Doktor, nicht der Kinderarzt mit den Kuscheltieren im Warteraum und dem
Mobile in Sprechzimmer.“ Doch plötzlich weiß ich, es war nicht bescheuert. Weil da mal
jemand anderes war. Ein kleines Kind. Da ist das Bild von einem kleinen Kind. Erst denke ich,
das bin vielleicht ich, doch da sind wieder die Worte: „Andere Schwester.“
17:44 Uhr
Ich weiß nicht, ob sonst noch etwas gesagt wurde im Innen. Ich weiß nicht mehr, woran
genau ich mich erinnert habe. Nur, dass ich plötzlich wusste, dass es einen Grund gab, ihm
zu glauben, und dieser Grund hatte einen Namen, den ich, glaube ich, vorhin wusste und
nun vergessen habe. Dieser Grund hatte kleine Hände, die ich halten wollte, nachts auf dem
Weg über einen Zeltplatz.
17:46 Uhr
Ich stelle mir vor, wie ich deine Hand halte. Deine kleinen Hände, nachts auf dem Weg über
einen Zeltplatz.
weil ich mir sicher war, ich muss jetzt nach Hause. Ich weiß nicht mehr, warum ich das so
schrecklich fand. Ich war doch glücklich, zuhause. Trotzdem habe ich stundenlang geweint,
bis meine Schwester nochmal den ganzen Weg abgegangen ist und meinen Ausweis
gefunden und ihn wieder an mein Schlüsselband gehängt hat, das ich angsterfüllt
umklammerte.
In der folgenden Nacht laufe ich über den schlammigen Zeltplatz zu den Toilettenhäuschen,
es ist dunkel, irgendetwas huscht zwischen den Bäumen neben der Wiese, und die Toiletten
sind nur mit roten Grabkerzen beleuchtet. Ganz schön gruselig ist es, denke ich mir, und
tröste mich mit dem Gedanken, dass meine große Schwester in einem der Zelte in meinem
Rücken liegt, und obwohl sie schläft, bin ich mir sicher, sie passt auf mich auf. „Wenn dann
meine kleine Schwester bald auch mit ins Lager fährt“, denke ich mir, „dann passe ich auch
so gut auf sie auf. Dann laufe ich nachts mit ihr über den Zeltplatz und warte vor den
grablichtbeleuchteten Toiletten und bringe sie sicher zurück ins Zelt.“ Für einen Moment bin
ich eine glückliche und stolze große Schwester. Dann fällt mir ein, dass ich keine kleine
Schwester habe und ich bin überrascht davon, wie sehr mich das überrascht. Ratlos stapfe
ich weiter über den Zeltplatz und blicke im Mondlicht traurig auf meine Hände, die nie eine
kleine Schwester halten werden, nachts auf dem Weg über einen schlammigen Zeltplatz.
15. Dezember 2023, 14:30 Uhr
„Was soll das?“, denke ich. „Hör auf, da irgendwas zusammen zu spinnen. Zufall, das ist alles.
Weißt du, wie viel du denkst? Tausend Gedanken gleichzeitig, in einem Leben von über zwei
Jahrzehnten. Da sind auch ein paar absurde dabei. Und mit der Zeit vielleicht auch ein paar
absurde über das gleiche Thema. Wenn ein Affe unendlich lange auf einer Schreibmaschine
herumtippt, wird er irgendwann alle Werke der Nationalbibliothek Frankreichs schreiben,
besagt das Theorem des endlos tippenden Affen. Wenn du genug denkst, ist da irgendwo
auch eine Geschichte über eine andere Schwester dabei. Zufall.“ „Von all den tausenden
Gedanken vergesse ich die meisten auf der Stelle – Wieso nicht diese? Wieso erinnere ich
mich, wie sehnsuchtsvoll und schmerzerfüllt ich an meine kleine Schwester gedacht habe,
vor 15 Jahren?“, frage ich mich. „Weil du gerne leidest“, antworte ich mir. „Könntest du
wenigstens ein bisschen leiser tun.“ Ich schreibe trotzdem weiter. Noch liest es ja keine:r,
noch kann ich leise leiden. Ob ich gehört werden will, das werde ich später beschließen.
Oktober 2022
Der Arzt ist mir suspekt. Nicht nur weil er Arzt ist, sondern auch, weil ich im Frühjahr
schonmal bei ihm war, als ich noch eine Klinik gesucht habe, und er mir eine ans Herz gelegt
hat, die homöopathisch arbeitet und mit Ayurveda. Trotzdem gehe ich wieder zu ihm, um
mir nach der Klinik meine Rezepte ausstellen zu lassen, weil man bei ihm keinen Termin
braucht und ich nicht telefonieren will. Also sitze ich ihm wieder gegenüber, ein halbes Jahr
später, er blickt auf meinen vorläufigen Entlassungsbericht und sagt „Trauma also, ah ja“.
„So ein bisschen“, sage ich. Er blickt mich an, irgendwie gelichzeitig besorgt und fasziniert.
„Sie haben nicht zufälligerweise ein Geschwisterkind gehabt, das verstorben ist?“, fragt er
plötzlich. Der Körper lacht. „Nein“, sagt die Stimme des Körpers. Doch dann fügt sie hinzu:
„Fast schon gruselig, dass Sie das sagen, so nah dran war noch keiner an der Wahrheit“, ich
weiß nicht, was das bedeutet, dann lacht der Körper wieder und ich mache mir keine
Gedanken. „Wissen Sie“, sagt der Arzt, „ich habe da nämlich eine Theorie. Ich habe so viele
Patientinnen, die ein Geschwisterkind verloren haben und deswegen ganz schwer leiden,
warten Sie, ich habe sogar ein Buch zu dem Thema“. Abwesend nicke ich zustimmend zu
seiner Theorie und blättere in dem kleinen Buch, dass er mir in die Hand gedrückt hat. Der
Körper lächelt höflich und interessiert. Nur im Innen wird nicht gelächelt. Im Innen weint
irgendwer, vielleicht auch mehrere, und irgend jemand schreit.
15. Dezember 2023, 14:54 Uhr
Ich bin noch gar nicht fertig mit dem letzten Abschnitt. Aber ich muss aufhören, zu
schreiben, weil der Körper sich gerade auflöst und meine tausenden Gedanken sich in eine
drückende Leere verwandeln. Ich denke jetzt an ein Einhorn auf einer Blumenwiese – das
hat Sophia mir mal beigebracht –, an Mendelssohns Violinkonzert in e-moll, ich denke an
keine Schwester, nicht an die große, die ich versuche, zu lieben und manchmal nicht zu
lieben, weil es schmerzt, was mich langsam in den Wahnsinn treibt, und nicht an die kleine,
die es wahrscheinlich nie gab. Es gab sie nie. Ich denke jetzt an ein Einhorn auf einer
Blumenwiese.
17:11 Uhr
Bis eben war ich in der Gestaltungstherapie. Wir haben Schatzkisten gebastelt, für einen
persönlichen Schatz, ich habe eine kleine Kiste gebaut für die Oktopusgeschichten – für das
erste Exemplar, dass ich in der Hand halten werde, wenn sie nächstes Jahr veröffentlicht
werden. „Für deine Sammlung von Lügen“, sagt etwas in mir, „für deine Märchen und
Legenden.“
Gleichzeitig: Meine Kopfschmerzen sind weg, oder zumindest zurück auf dem üblichen
Niveau. Den ganzen Tag hat mein Kopf gehämmert, trotz Schmerzmittel, weil ich einfach
keine Triptane nehmen wollte – so schlimm ist es doch gar nicht, es ist sicher keine Migräne.
Die Triptane, die ich dann irgendwann doch genommen habe, haben gewirkt wie ein
Wunder.
Ich denke daran, wie ich jahrelang dachte, ich spiele meine Migräne nur. „Das sind ganz
normale Kopfschmerzen, das kannst du doch nicht Migräne nennen, reiß dich mal
zusammen.“ Dann habe ich vor einem Jahr zum ersten Mal Triptane genommen, und ich
habe geweint vor Erleichterung, als sie gewirkt haben, als endlich etwas gewirkt hat.
Ich wünschte, es gäbe solche Mittel auch gegen Erinnerungen – damit sie weg sind,
zumindest für eine Weile, das zum einen, zum anderen aber, vor allem aber, damit ich weiß,
ob es tatsächlich Erinnerungen sind oder skurrile Tagträume.
Fast will ich der Landauer Polizei eine Mail schreiben, ob irgend etwas bekannt ist über einen
unerklärten Todesfall oder ein unerklärtes Verschwinden eines weiblichen Säuglings oder
Kleinkindes, irgendwann zwischen 2003 und 2006. Aber ich traue mich nicht: Kaum ertragen
könnte ich die Scham über meine Lügen, wenn sich bestätigt, dass ich mir alles ausgedacht
habe, nicht ertragen könnte ich das Grauen, wenn sich dies nicht bestätigt. Ich schreibe also
keine Mail, ich schreibe weiter diesen Text.
Oktober 2022, II
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, was ich hierzu noch schreiben wollte. Ich weiß nicht
mehr, was geschah, nachdem der Arzt von toten Geschwistern geredet hat und
irgendjemand im Innen –
15. Dezember 2023, 17:26 Uhr
Ich kann mich kaum bewegen, aber immerhin kann ich mich wieder bewegen. Die
Buchstaben erscheinen langsam, ganz langsam auf dem Bildschirm. Ich will an ein Einhorn
auf einer Blumenwiese denken, aber mein Kopf blockiert. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe,
diese Worte zu schreiben, aber ich schreibe einfach weiter, weil es das Einzige ist, was mich
hier hält, wachhält, in Bewegung hält ich habe keine Gedanken ich weiß nicht was ich
schreiben soll ich schreibe einfach weiter ich schreibe einfach weiter ich darf nicht immer
das gleiche schreiben sonst bin ich gleich wieder weg weg weg schreib etwas anderes hör
nicht auf zu denken hör nicht –
17:34 Uhr
Wieder da.
13. Dezember 2023, nachmittags
Irgend jemand schreibt „Schwester“ zwischen all die grusligen Dinge. Das darf dort nicht
stehen. Sie gehört da nicht hin, zwischen Worte über den Teufel und Pillen und Knochen und
ausgezogener Kleidung. Nicht meine zu oft, zu selten geliebte große Schwester. „Das darf
nicht sein“, schreibe ich also wie betrunken, und bin wieder weg. Als ich zurückkomme, steht
dort nur „andere Schwester“.
15. Dezember 2023, 17:35 Uhr
Ich will über heute Vormittag schreiben. Über die Erinnerung, die in der Therapie plötzlich da
war, die Erinnerung, wegen welcher ich diesen Text schreibe, irgendwas mit einer
Schwester, der anderen Schwester. Aber die Erinnerung ist weg, genauso wie die Erinnerung
an die Erinnerung. Ich will mich erinnern, wie ich mich erinnert habe, rufe mir den Raum in
den Kopf, das Gespräch, aber ich weiß nicht, wo ich anknüpfen muss. Was habe ich wann
erinnert? Irgendwann gegen Ende der Stunde. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich hoffe, die
Erinnerung kommt zurück, weil ich die Fragen, das Nicht-Wissen nicht aushalte, aber ich
weiß jetzt schon: Wenn sie zurückkommt, werde ich mir wünschen, sie wäre für immer fort
gewesen. Wenn sie zurückkommt, werde ich erkennen, wie viel schwerer als das Nicht-
Wissen das Wissen wiegt.
17:38 Uhr
Ich weiß noch, dass da ein Bild war, das weiß ich noch. Ein kleines Kind.
Jetzt weiß ich wieder mehr, ich muss es schnell aufschreiben, bevor es weg ist:
Gleicher Tag, 15. Dezember 2023, gegen 12:50 Uhr
Erpressung. Es geht um Erpressung. Ich denke mir „Wie konnte ich so bescheuert sein, ihm
zu glauben, zu glauben, er würde meine Mutter umbringen, das würde er doch nie machen,
nicht der Herr Doktor, nicht der Kinderarzt mit den Kuscheltieren im Warteraum und dem
Mobile in Sprechzimmer.“ Doch plötzlich weiß ich, es war nicht bescheuert. Weil da mal
jemand anderes war. Ein kleines Kind. Da ist das Bild von einem kleinen Kind. Erst denke ich,
das bin vielleicht ich, doch da sind wieder die Worte: „Andere Schwester.“
17:44 Uhr
Ich weiß nicht, ob sonst noch etwas gesagt wurde im Innen. Ich weiß nicht mehr, woran
genau ich mich erinnert habe. Nur, dass ich plötzlich wusste, dass es einen Grund gab, ihm
zu glauben, und dieser Grund hatte einen Namen, den ich, glaube ich, vorhin wusste und
nun vergessen habe. Dieser Grund hatte kleine Hände, die ich halten wollte, nachts auf dem
Weg über einen Zeltplatz.
17:46 Uhr
Ich stelle mir vor, wie ich deine Hand halte. Deine kleinen Hände, nachts auf dem Weg über
einen Zeltplatz.
17:47 Uhr
Kurz war ich traurig, eben. Fast. Dann: Hör auf. Hör auf mit deiner Melodramatik. Hör auf zu lügen. Lösch diesen Text. Du verdammte Lügnerin. Willst du das jetzt wirklich noch vier Wochen durchziehen, dein Gejammere, dein erfundenes Grauen? Und dann? Irgendwann musst du aufhören zu lügen, Aufmerksamkeit wird dich nicht heilen, nur das Erkennen, dass du gelogen hast und nichts passiert ist, es ist nichts passiert. Fang endlich mal an, aufrichtig zu sein und Verantwortung zu übernehmen, du verlogenes Stück Scheiße. Ich hasse mich selbst, gerade. Für das Lügen, für das Schreien nach Aufmerksamkeit. Ich glaube, das ist vielleicht leichter, als mich zu hassen, dafür, dass ich ein paar kleine Hände nicht halten konnte in dem Moment, in dem es am meisten gezählt hätte. |
Es fühlt sich dennoch beschissen an, mir ist schlecht, ich will kotzen, bis all das Böse und Verlogene meinen Körper
verlassen hat, ein Teil von mir will „Lügnerin“ in meine Stirn schneiden, oder auf meine
Wangen, damit jede:r sieht, wer ich bin, was ich bin: ein verlogenes Stück Scheiße.
17:54 Uhr
Atmen. Sitzen bleiben. Vielleicht rauchen gehen, nicht aufs Zimmer, bloß nicht aufs Zimmer.
Gleich ist Triade, dann Abendessen, dann rauchen, dann geh ins Wohnzimmer, bis die
Tabletten dich ausknocken. Nicht aufs Zimmer. Bloß nicht aufs Zimmer.
20:49 Uhr
Fast eine ganze Schachtel Zigaretten später sitze ich im Frauenraum, und in mir fühlt es sich
an, als würde die Welt untergehen, oder als wäre sie gerade untergegangen. Aber da sitzt
Marie am Tisch und puzzelt, auf dem Puzzle sind ganz viele kleine bunte Fische und sogar ein
Oktopus. Die Welt kann nicht untergehen, während Marie am Tisch sitzt und einen Oktopus
puzzelt, und mir von den Bildern erzählt, die sie gemalt hat, und denen, die sie noch malen
will.
Der Nachtdienst ist jetzt da. Erst die Tabletten, dann nochmal rauchen, dann duschen, dann
ist der Tag vorbei, ohne, dass jemand „Lügnerin“ auf meine Wangen geschnitten hat oder
sonst irgendwas sonst irgendwo hin, dann ist der Tag vorbei, ohne, dass die Welt
untergegangen ist, dann ist der Tag vorbei. Und morgen fahre ich zu Verena, die ist auch
viele, und die wird 35 nächste Woche, man kann also viele sein und 35 werden. Gina wird
auch da sein, und auch Gina ist viele, und Gina wurde gerade 36.
Vielleicht habe ich nicht nur gleich den Tag überstanden, vielleicht überstehe ich auch
morgen und übermorgen und sogar den 21. und den 24. und Pfingsten nächstes Jahr und
das Jahr darauf.
Und im Moment sitzt Marie am Tisch und puzzelt einen Oktopus.
Nachtrag:
16.12.2023, 00:06 Uhr
Ich lösche den Text auf der Website und schreibe stattdessen
„ALLES LÜGEN ALLES LÜGEN ALLES LÜGEN“.
00:09 Uhr
Ich füge hinzu:
„Irgendjemand hätte doch von ihr gewusst, meine große Schwester oder Helena, unsere Freundin aus dem Kindergarten. Meine Oma und die Bekannten meiner Eltern.
Was hat mein Hirn sich da schon wieder zusammengereimt?
Ich weiß nicht mehr, was wahr oder falsch ist. Ich weiß nicht mehr, was eine Erinnerung ist und was eine Imagination. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich sollte vermutlich schlafen gehen, jetzt, um 00:09, aber wahrscheinlich gehe ich einfach rauchen. Ich habe so Angst, zu schlafen.“
08:47 Uhr
Ich beschließe, den Text wieder hochzuladen. Ich weiß nicht, ob er der Realität entspricht – vielleicht doch, vielleicht war es eine Halbschwester oder eine Seelenschwester, oder ein Mensch, von dem mir gesagt wurde, er sei meine Schwester. Egal, ob es die Realität ist oder nicht, was ich in diesem Text geschrieben habe, ist meine Wahrheit, das hat mir mein Körper mehr als einmal gezeigt.
Ich lade ihn also wieder hoch, auch wenn es unbeschreiblich schmerzt, dass sich meine Tiefsee um diese Worte erweitern muss.
verlassen hat, ein Teil von mir will „Lügnerin“ in meine Stirn schneiden, oder auf meine
Wangen, damit jede:r sieht, wer ich bin, was ich bin: ein verlogenes Stück Scheiße.
17:54 Uhr
Atmen. Sitzen bleiben. Vielleicht rauchen gehen, nicht aufs Zimmer, bloß nicht aufs Zimmer.
Gleich ist Triade, dann Abendessen, dann rauchen, dann geh ins Wohnzimmer, bis die
Tabletten dich ausknocken. Nicht aufs Zimmer. Bloß nicht aufs Zimmer.
20:49 Uhr
Fast eine ganze Schachtel Zigaretten später sitze ich im Frauenraum, und in mir fühlt es sich
an, als würde die Welt untergehen, oder als wäre sie gerade untergegangen. Aber da sitzt
Marie am Tisch und puzzelt, auf dem Puzzle sind ganz viele kleine bunte Fische und sogar ein
Oktopus. Die Welt kann nicht untergehen, während Marie am Tisch sitzt und einen Oktopus
puzzelt, und mir von den Bildern erzählt, die sie gemalt hat, und denen, die sie noch malen
will.
Der Nachtdienst ist jetzt da. Erst die Tabletten, dann nochmal rauchen, dann duschen, dann
ist der Tag vorbei, ohne, dass jemand „Lügnerin“ auf meine Wangen geschnitten hat oder
sonst irgendwas sonst irgendwo hin, dann ist der Tag vorbei, ohne, dass die Welt
untergegangen ist, dann ist der Tag vorbei. Und morgen fahre ich zu Verena, die ist auch
viele, und die wird 35 nächste Woche, man kann also viele sein und 35 werden. Gina wird
auch da sein, und auch Gina ist viele, und Gina wurde gerade 36.
Vielleicht habe ich nicht nur gleich den Tag überstanden, vielleicht überstehe ich auch
morgen und übermorgen und sogar den 21. und den 24. und Pfingsten nächstes Jahr und
das Jahr darauf.
Und im Moment sitzt Marie am Tisch und puzzelt einen Oktopus.
Nachtrag:
16.12.2023, 00:06 Uhr
Ich lösche den Text auf der Website und schreibe stattdessen
„ALLES LÜGEN ALLES LÜGEN ALLES LÜGEN“.
00:09 Uhr
Ich füge hinzu:
„Irgendjemand hätte doch von ihr gewusst, meine große Schwester oder Helena, unsere Freundin aus dem Kindergarten. Meine Oma und die Bekannten meiner Eltern.
Was hat mein Hirn sich da schon wieder zusammengereimt?
Ich weiß nicht mehr, was wahr oder falsch ist. Ich weiß nicht mehr, was eine Erinnerung ist und was eine Imagination. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich sollte vermutlich schlafen gehen, jetzt, um 00:09, aber wahrscheinlich gehe ich einfach rauchen. Ich habe so Angst, zu schlafen.“
08:47 Uhr
Ich beschließe, den Text wieder hochzuladen. Ich weiß nicht, ob er der Realität entspricht – vielleicht doch, vielleicht war es eine Halbschwester oder eine Seelenschwester, oder ein Mensch, von dem mir gesagt wurde, er sei meine Schwester. Egal, ob es die Realität ist oder nicht, was ich in diesem Text geschrieben habe, ist meine Wahrheit, das hat mir mein Körper mehr als einmal gezeigt.
Ich lade ihn also wieder hoch, auch wenn es unbeschreiblich schmerzt, dass sich meine Tiefsee um diese Worte erweitern muss.